Lisa Jahns und Torsten Geiling sind Beziehungsberater und ein Ehepaar, das im Patchwork lebt. Gemeinsam sprechen sie über die besondere Rolle der Stiefeltern, über den Mut zur Ehrlichkeit und warum gerade die schwierigen Gefühle wertvoll sind.
Der Titel Ihres Buches "Du wusstest doch, dass er Kinder hat" greift einen Satz auf, den viele Stiefeltern zu hören bekommen. Was hat Sie bewogen, gerade diese oft verletzende Aussage als Ausgangspunkt für ein Gespräch über die Komplexität von Patchwork-Familien zu wählen?
Lisa: Dieser Satz ist für mich der Inbegriff dessen, was im Umgang mit Stiefeltern schiefläuft. Er suggeriert, dass man kein Recht hat, die eigenen emotionalen Herausforderungen zu thematisieren, weil man sich ja "bewusst" darauf eingelassen hat. Als ob man im Voraus wissen könnte, wie sich eine solch komplexe Familienkonstellation anfühlt! Mit diesem Titel möchte ich genau diese verletzende Dynamik aufbrechen und deutlich machen.
Torsten: Auch ich habe diesen Satz Lisa schon an den Kopf geworfen. Gleichzeitig musste ich erkennen: Niemand weiß vorher wirklich, worauf er sich einlässt. Stiefeltern nicht - und Eltern genauso wenig. Und das ist auch völlig in Ordnung.
Lisa, ist das auch der Grund, warum Sie die Idee zu diesem Buch hatten?
Lisa: Wir kennen die Herausforderungen des Patchwork-Lebens aus eigener Erfahrung - als Paar, als Eltern und als Stiefeltern. Gleichzeitig sehen wir in unserer Beratungspraxis täglich, wie Menschen an genau den Konflikten scheitern, die wir selbst durchlebt haben. Es gibt zwar viele Ratgeber zum Thema Patchwork, aber die meisten propagieren eine Art "Harmoniezwang" und suggerieren, dass sich alle Konflikte auflösen lassen, wenn man sich nur genug anstrengt. Unsere Erfahrung zeigt: Dieser Ansatz führt oft zu noch mehr Druck und Schuldgefühlen. Mit unserem Buch wollen wir einen anderen Weg aufzeigen - einen Weg der Authentizität und der ehrlichen Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen.
Warum ist dieses Buch gerade jetzt so wichtig?
Lisa: In unserer Arbeit als Berater erleben wir oft, wie Stiefeltern unter dem Druck gesellschaftlicher Erwartungen leiden. Die Zahl der Patchwork-Familien steigt stetig, aber unsere Vorstellungen davon, wie diese Familien funktionieren sollten, sind noch stark von überholten Idealen geprägt. Dieses Buch bricht mit dem Tabu, dass Patchwork sich eben nicht immer für alle nach einem Gewinn anfühlt. Es gibt gerade Stiefeltern die Erlaubnis, authentisch zu sein und eigene Grenzen zu setzen. In einer Zeit, in der viele Menschen nach echten Beziehungen suchen, ist diese Ehrlichkeit wichtiger denn je.
Was unterscheidet Ihr Buch von anderen Patchwork-Ratgebern?
Torsten: Unser Buch ist kein weiterer Ratgeber, der verspricht, dass am Ende alle glücklich und harmonisch zusammenleben werden. Stattdessen nehmen wir die emotionale Realität von Stiefeltern ernst.
Lisa: Wir zeigen auf, dass man eine gute Beziehung führen kann, auch wenn nicht alle Konflikte gelöst werden. Dass man ein wertvoller Teil einer Patchwork-Familie sein kann, auch wenn man die Stiefkinder nicht wie eigene liebt. Diese Ehrlichkeit und der Mut, auch die unbequemen Wahrheiten anzusprechen, machen unser Buch zu einem echten Begleiter für Menschen in Patchwork-Situationen. Es geht nicht darum, wie man die perfekte Familie erschafft, sondern wie man authentisch seinen eigenen Weg findet.
Viele Stiefeltern kämpfen mit Schuldgefühlen, weil sie ihre Stiefkinder nicht "genug" oder nicht "richtig" lieben. Wie unterstützen Sie sie dabei, einen authentischen Weg im Umgang mit diesen emotionalen Herausforderungen zu finden?
Lisa: Der erste und wichtigste Schritt ist die Erlaubnis, diese Gefühle überhaupt haben zu dürfen. In meiner Beratung erlebe ich immer wieder, wie befreiend es für Stiefeltern ist, wenn sie zum ersten Mal aussprechen können: "Ich liebe dieses Kind nicht wie mein eigenes." Oft folgt diesem Eingeständnis zunächst Scham, dann aber eine tiefe Erleichterung. Denn Liebe lässt sich nicht erzwingen - sie entsteht oder eben manchmal auch nicht. Und das ist völlig in Ordnung. Erst wenn wir aufhören, gegen unsere wahren Gefühle zu kämpfen, können wir beginnen, eine authentische Beziehung zu unseren Stiefkindern aufzubauen.
In Ihrem Buch räumen Sie mit dem Ideal der harmonischen Patchwork-Familie auf. Was hat Sie dazu bewogen, einen so ehrlichen Blick auf die emotionalen Realitäten von Stiefeltern zu werfen?
Lisa: Meine eigene Erfahrung als Stiefmutter hat mir gezeigt, wie toxisch dieses Ideal der perfekten Patchwork-Familie sein kann. Es erzeugt einen enormen Druck, der letztlich allen Beteiligten schadet. In meiner Beratungsarbeit sehe ich täglich Menschen, die an diesem Ideal zerbrechen. Sie denken, mit ihnen stimmt etwas nicht, weil sie diese harmonische Bilderbuchfamilie nicht hinbekommen. Dabei ist genau diese Erwartung das Problem. Patchwork ist komplex, manchmal chaotisch und oft emotional herausfordernd. Das anzuerkennen ist der erste Schritt zu einem ehrlicheren und damit auch gesünderen Familienleben.
Sie vertreten die These, dass nicht jeder Konflikt in Patchwork-Familien aufgelöst werden muss. Das ist ein mutiger Ansatz, der sich von vielen anderen Ratgebern unterscheidet. Können Sie uns erklären, warum manche Konflikte besser "ausgehalten" als "gelöst" werden?
Torsten: Diese Erkenntnis war für mich persönlich und in meiner Beratungsarbeit ein echter Wendepunkt. Nicht jeder Konflikt braucht eine Lösung - manchmal braucht er einfach nur Akzeptanz.
Lisa: Nehmen wir das Beispiel einer Stiefmutter, die sich unwohl fühlt, wenn das Kind ihres Partners bei ihnen im Bett schläft. Viele würden jetzt sagen: "Das muss sich ändern, da muss man dran arbeiten." Aber vielleicht ist es viel heilsamer zu akzeptieren: "Ja, das ist so. Ich fühle mich damit nicht wohl, und das ist okay." Diese Akzeptanz kann paradoxerweise zu mehr Entspannung führen als der ständige Versuch, Gefühle zu verändern.
Viele Stiefeltern fühlen sich zerrissen zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Erwartungen ihres Partners. Wie können sie lernen, zu ihren Gefühlen zu stehen, ohne die Beziehung zu gefährden?
Lisa: Das ist tatsächlich eine der größten Herausforderungen. Der Schlüssel liegt in der ehrlichen, aber einfühlsamen Kommunikation. Stiefeltern müssen lernen, ihre Bedürfnisse und Grenzen klar zu formulieren, ohne dabei anklagend zu sein. Ein Beispiel: Statt zu sagen "Deine Kinder nerven mich total", kann man sagen "Ich brauche manchmal Auszeiten für mich, um neue Kraft zu tanken." Es geht darum, die eigenen Gefühle zu äußern und gleichzeitig anzuerkennen, dass der Partner seine Kinder liebt und schützen möchte.
Sie sprechen in Ihrem Buch davon, dass es keine falschen Gefühle gibt. Welche Rolle spielen gesellschaftliche Erwartungen bei der emotionalen Belastung von Stiefeltern?
Torsten: Der gesellschaftliche Druck auf Stiefeltern ist enorm. Das Märchen von der bösen Stiefmutter sitzt tief in unseren kulturellen Erzählungen. Gleichzeitig gibt es die Erwartung, dass Stiefeltern ihre Stiefkinder wie eigene lieben sollen.
Lisa: Dieser Widerspruch ist kaum auszuhalten. In meiner Beratung erlebe ich, wie sehr Menschen darunter leiden, diesem idealisierten Bild nicht zu entsprechen. Dabei sind alle Gefühle - auch die schwierigen, die unbequemen - völlig normal und wichtige Wegweiser für unsere Grenzen und Bedürfnisse.
Was würden Sie Stiefeltern mit auf den Weg geben, die sich als Versager fühlen, weil sie dem Ideal der perfekten Patchwork-Familie nicht gerecht werden?
Lisa: Zuallererst: Sie sind keine Versager. Sie stellen sich einer der komplexesten Familienkonstellationen überhaupt und tun ihr Bestes. Die perfekte Patchwork-Familie gibt es nicht - auch wenn Social Media und Ratgeber uns das gerne glauben machen wollen. Was es gibt, sind echte Menschen mit echten Gefühlen, die jeden Tag aufs Neue versuchen, einen Weg zu finden.
Torsten: Ich möchte noch anfügen: Ganz unabhängig davon, ob es sich nun um Elternteile oder Stiefeltern handelt. Beide sind Partner in einer besonders herausfordernden Beziehungskonstellation. Jeder hat seine eigene Geschichte und Gewichte im Rucksack. Die kann man sich nur bedingt gegenseitig abnehmen. Oftmals hilft aber schon, dass man Verständnis und Empathie zeigt für das, an dem der andere trägt.
Wenn Sie in die Zukunft blicken: Welche Veränderungen wünschen Sie sich im gesellschaftlichen Umgang mit Patchwork-Familien und besonders mit Stiefeltern?
Lisa: Ich wünsche mir, dass wir aufhören, ein bestimmtes Familienmodell als das einzig richtige zu propagieren. Patchwork-Familien sind so vielfältig wie die Menschen, die in ihnen leben. Manche wachsen zu einer engen Einheit zusammen, andere bleiben eher lose verbunden - und beides ist völlig in Ordnung. Ich hoffe, dass wir dahin kommen, diese Vielfalt zu akzeptieren und wertzuschätzen. Vor allem aber wünsche ich mir, dass Stiefeltern den Mut finden, zu ihren wahren Gefühlen zu stehen.
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